Montag, 27. Oktober 2025

Stube-Brief


Gestern beim Stöbern in meinen alten Schriften ist mir der "Stube-Brief" vom 24. März 2004 in die Hände gefallen - auf den Tag genau zwanzig Jahre vor meinem letztjährigen Eintritt in die Reformierte Landeskirche geschrieben und an meine Freunde versandt. 

Für mich selber erstaunlich sind - nebst der Tatsache, dass ich die damalige Auffassung auch heute noch teile - die Parallelen, die ich darin zu den Aussagen Raimon Panikkars entdecke, der mir zu der Zeit noch völlig unbekannt gewesen ist. Zitiert habe ich ihn hier im Besinnungsforum inzwischen bereits vier Mal, siehe: Christus & Buddha, Erde & Leib, Religiöser Pluralismus, und Wissenschaft & Religion.

Der Stube-Brief hat in meinem damaligen Lebenskontext nicht nur Verständnis, sondern auch Unverständnis erzeugt. Auf das Unverständnis dreier mir damals sehr nahestehender Menschen, die mir ihre Anschauung zu meinen Äusserungen brieflich kundgetan haben, bin ich wiederum mit einem Brief eingegangen, diesen zitiere ich hier nach dem Stube-Brief (leicht gekürzt und ohne Namensnennung). 







Wasen, 4. April 2004

Lieb' X
Lieb' Y
Lieb' Z

Vielen Dank für Eure Feedbacks zu meinem 'Stube-Brief'. Klare Stellungnahmen helfen mir, mich zu orientieren und meinerseits ebenfalls klar zu meiner Sicht der Dinge Stellung zu beziehen und vertrauensvoll und mutig meinen Lebensweg zu gehen.

X, es ist mir aus meinem eigenen Leben und Erleben zutiefst klar, dass ich - wie alle Menschen - erlösungsbedürftig bin. Gerade aus tief empfundenem Leiden und schmerzlich erlebter Unvollkommenheit (Fehlerhaftigkeit) entsprang einst diese Sehnsucht und Suche nach Erlösung, die mich - wohl seit ich bewusst denken und fühlen kann - in meinem Dasein nicht Stillstehen, sondern immer weiter gehen und weiter leben und weiter suchen und immer wieder ein kleines und neues Stück wahres Leben finden lässt.

Als ich Eure Antworten las, empfand ich sie zuerst wie feurige Lanzen, die mich stechen und mir Schmerz bereiten. Dann wurde ich wütend. Jetzt bin ich traurig. Traurig darüber, dass ihr alle drei 'das Kreuz' vor mich hinstellt und Euch dahinter versteckt. So jedenfalls erlebe ich es.

Wenn ich im Kreuz die göttliche Vergebung sehe, dann bezeuge ich: Es gibt kein Durchkommen zum Vater ohne das Kreuz. Wenn das Kreuz aber für christliche Theologie und Religiosität steht, dann bezeuge ich: Ich werde zum Vater nach Hause kommen ohne das Kreuz. Wenn das Sterben von Jesus für ein Einstehen und Sterben für Wahrheit und Liebe steht, dann sage ich: Es gibt kein ewiges Leben ohne das Sterben Jesu. Wenn aber das Sterben Jesu einfach das Sterben der historischen Person Jesus von Nazareth meint, dann sage ich: Ich bin ohne Jesus keinesfalls kläglich verloren.

Y, ich will Dich gegenfragen: Was bringt Dich dazu, anzunehmen, dass Jesus für mich bloss Mensch, nicht aber Gottes Sohn sei? Warum denkst Du, dass ich mich gegen Jesus als Sohn Gottes und als meinen Retter und Erlöser wehre? 'Der Buchstabe tötet, der Geist gibt Leben...!'

Dass Jesus 'Sohn Gottes' ist, hat für mich keine quasi 'fleischliche' Bedeutung. Jesus ist der 'Gesalbte Gottes', der 'Bevollmächtigte', der im Auftrag Gottes 'regiert', der Stellvertreter, an dem die Menschen sich orientieren können, wenn sie wissen wollen, wer Gott sei und was Gott von ihnen wolle. In diesem Sinne ist für mich Jesus ganz klar Mensch, als solcher aber (in seiner Berufung) 'Sohn Gottes'. Er wurde auch mir zum Erlöser und Heiler, indem er mich von einigen ganz konkreten Fehlverhalten befreit hat.

Also, Y: Ich bezeuge Jesus als Gottes Sohn. Ich bezeuge auch, dass er - für mich persönlich und für die ganze Menschheit - in all seiner Aufrichtigkeit, in seiner Liebe und Vergebungsbereitschaft, gestorben ist am Kreuz.

Gleichzeitig lehne ich jedes Dogma und jede Buchstabengläubigkeit ab, die das Kreuz als absolute Wahrheit für die eigene Theologie und Religiosität in Anspruch nimmt. Jesus ist gestorben für die Menschen - und zwar für alle und gerade eben für die sündigsten unter ihnen. Er ist nicht gestorben für die Gerechten. Die Gerechten brauchen ihn nicht. Sie haben ihn ja schon.

Ich sehe in Jesus den Gesalbten Gottes. Er will mein Freund sein. Er liebt mich und freut sich, wenn ich seine Liebe erwidere - wie auch immer dies dann aussieht. Jesus ist mir Vorbild darin, was es heisst 'echt', 'wahr' zu leben. Deshalb ist er für mich 'die Wahrheit'.

Z, ich muss Dir in einigen Punkten die Du äusserst widersprechen. Zum Ersten kann ich nicht glauben, dass Dir andere Religionen 'bekannt' und 'wichtig' sind. Was heisst das denn, eine Religion zu 'kennen'? Ihre Theorie? Ihre Lehre?

Wann 'kennt' ein Mensch das Christentum? Doch wohl erst, wenn er in und durch Christus eine lebendige Beziehung zu Gott eingegangen ist. Wenn er also, wie wir sagen, 'bekehrt' und 'wiedergeboren' ist (Joh 3.3-8). Ist dies nicht der Fall, dann kann er zwar problemlos die Bibel in- und auswendig kennen, die wirkliche christliche Religion ist ihm aber nach wie vor unbekannt. Hat er aber diese lebendige Beziehung mit Gott, dann lebt er das Christentum und kennt es.

Ebenso verhält es sich mit den anderen Religionen (auf jeden Fall mit dem Buddhismus - dies kann ich aus eigenem Erleben und Erfahren bezeugen). Auch wenn Du noch so viel 'über' den Buddhismus lesen und 'wissen' würdest, solange Du nicht 'in den Strom eingetreten' (sotapanna) bist (durch ein erstes Verwirklichen von Nirvana), kennst Du den Buddhismus nicht. Sobald Du aber dieses Erlebnis hast, hast Du Heilsgewissheit und kennst den Buddhismus - weil Du ihn lebst.

Ich behaupte also, Z, dass Du den Buddhismus nicht kennst. Ich sage auch, Z, dass Du andere Religionen eben gerade nicht an Jesus Christus prüfen kannst, wenn Du Dich wirklich für sie interessieren und sie - wie Du schreibst - achten wolltest. Ebenso wie Du das Christentum nur von Jesus her verstehen und leben kannst, so kannst Du den Buddhismus nur vom Buddha her verstehen und leben. Ehrlicher als Deine Aussage, Dir seien andere Religionen nicht unbekannt und nicht unwichtig und Du habest eine tiefe Achtung ihnen gegenüber, wäre also meiner Ansicht nach die Aussage, dass Du andere Religionen nicht kennst und sie auch nicht - durch Dein eigenes Gehen ihrer Wege - kennen, gehen, und lieben lernen möchtest.

Jeder Mensch bringt eine andere und sehr eigene Biographie mit. Wir sind vier Menschen mit verschiedenem weltlichem und geistlichem Lebenshintergrund. Ich bin den buddhistischen Weg gegangen bis dahin, dass ich Nirvana realisierte und dadurch zu einem 'Stromeingetretenen' geworden bin (1981). Die damit verbundene Heilsgewissheit geht mir nie wieder verloren, das heisst: Ich weiss mit Gewissheit, es gibt die Erlösung und sie ist sowohl hier und jetzt in diesem Leben, als auch in definitiver Form nach dem Tod als endgültige Befreiung von Leiden und Tod erlebbar und erreichbar. 

Ich habe mein Leben Jesus gegeben (1996) weil ich weiss, dass er Gottes Sohn ist und dass er als der Auferstandene an der Seite Gottes in seinem Reich 'regiert'. Ich weiss, dass das Reich Gottes mitten unter uns, um uns und in mir ist. Ich lebe als ein Bruder und Freund von Jesus Christus in diesem Reich Gottes, und das Reich und Jesus leben in mir. Und nach meinem 'Tod' werde ich endgültig bei meinem Vater im Himmel sein. Auch diese Gewissheit habe ich.

Ich erlebe Ergänzung, nicht Gegensatz.
Integration, nicht Ausgrenzung.
Und 'der Geist gibt Leben...'
Herzlich Euer
        Ueli 
  

Anfang dieses Jahres (2025), also einundzwanzig Jahre nach dem 'Stube-Brief' und der Diskussion um dessen Aussagen, las ich das Interview der "Herder Korrespondenz" aus dem Jahr 2001 mit (dem eingangs erwähnten) Raimon Panikkar. Hier ein paar markante Äusserungen Panikkars, die ich freudig als eine Bestätigung meiner damaligen und heute immer noch gültigen Einsichten nehme:

Religionen sind nicht wie Parteien, bei denen man nur jeweils in einer einzigen Mitglied sein kann. Die Angehörigkeit zu einer Religion ist vielmehr eine Lebenserfahrung, die man später nicht mehr zu leugnen vermag.

Ich sehe keine Schwierigkeit, als Christ einer anderen Religion anzugehören, solange dies keine Verneinung des christlichen Glaubens bedeutet.

Wirklich tiefe menschliche Kommunikation geschieht doch erst da, wo wir von unserem Herzen her sprechen. Genau dann aber geht es auch um die spirituellen Erfahrungen.

Der Dialog zwischen Andersgläubigen ist kein Austausch von Informationen, wie zwei Computer dies leisten können, sondern eine Frage der Liebe zwischen Menschen.

Auch wurde mir immer wichtiger, dass meine Vorstellungen von Gott wirklich nur Vorstellungen sind und sie das Mysterium nicht treffen.

Es ist nicht leicht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Nur mit dem Gleichgesinnten zu reden ist kein Dialog. Es ist hingegen schwer, den Feind zu lieben, wie es schwer ist, den Fanatiker zu achten oder dem Fundamentalisten an einer Stelle Recht zu geben. Wenn ich vehement antifundamentalistisch bin, bin ich auch ein Fundamentalist. Und es ist immer ein Problem, die Irritation der Anderen auszuhalten.

Dialog ist nicht nur eine elitäre Sache. Dialog geschieht dann, wenn ich im Alltag über meinen Glauben rede. Ich offenbare alltäglich mein Selbst, zu dessen Kern meine Seele und meine Religion gehören. Die Gelehrten müssen das vertiefen und einige auch Bücher schreiben, aber es gibt einen unvermeidlichen Dialog des Alltags.

Wie viele Tausende von Christen haben den Sinn von Meditation, Gelassenheit und auch Friedfertigkeit in der Begegnung mit den Anderen im Kontakt mit dem Buddhismus oder dem Hinduismus gelernt? Sind sie durch diese Befruchtung schlechte Christen geworden?

Auch heute stiftet Christus direkte Beziehungen zu ihm: Etwa wenn der Mensch von der Bergpredigt hört und sie als Ideal begreift.

Das ganze Interview kann hier gelesen werden. 
 

Besinnungen

Informationen, Texte, Bilder, Lieder, usw. für Teilnehmende und Interessierte an meinen Angeboten unter BEGEGNUNG - MEDITATION - LIEDER .  E...