Dienstag, 28. Oktober 2025

Es reut mich nicht

 

Alles ist euer, ihr aber seid Christi,
Christus aber ist Gottes. (1. Kor. 3,22-23)
  
Viel reut mich einst an meines Grabes Pforte
Im Blick auf meinen irren Pilgerlauf,
In Scharen stehn Gedanken, Werke, Worte
Als Kläger wider meine Seele auf,
Mein Flehn, wenn mich des Richters Blick durchflammet,
Ist: Herr, geh mit dem Knecht nicht ins Gericht!
Doch manches, Freunde, was ihr streng verdammet,
-- Es reut mich nicht.

Mich reut kein Spruch, den schonend ich gesprochen,
Wo man den Bruder auf der Wage wog;
Wenn ich gehofft, wo ihr den Stab gebrochen,
Und Honig fand, wo Gift ein Andrer sog;
Und war zu mild mein Spruch, zu kühn mein Hoffen,
Im Himmel sitzt er, der das Urteil spricht,
Auch mir bleibt nur ein Gnadenpförtlein offen:
-- Es reut mich nicht.

Mich reut kein Weg, drein sich mein Geist vertiefte
Im ernsten Dienst gestrenger Wissenschaft,
Wenn ich, dieweil ihr schlieft, die Flügel prüfte
Der angebornen, gottgeschenkten Kraft,
Und wars ein Umweg, der nach heißen Stunden
Zurück erst führte zu dem ewgen Licht:
Wer recht gesucht, nun der hat recht gefunden;
-- Es reut mich nicht.

Mich reut kein Lied, im Freundeskreis gesungen,
Wie still genossen unter Busch und Baum,
Wenn von der Dichtung Zauberhand umschlungen,
Mein Haupt umfloss ein kurzer goldner Traum;
Und wars nicht immer eine Kirchenweise,
Und wars Homers Gesang, Shakspears Gedicht:
Im Waldesdom rauschts auch zu Gottes Preise;
-- Es reut mich nicht.

Mich reut kein Tag, den ich in Tal und Hügeln
Durch meines Gottes schöne Welt geschwärmt,
Umsaust im Sturm von seiner Allmacht Flügeln,
Im Sonnenschein von seiner Huld gewärmt;
Und wars kein Gottesdienst im Kirchenstuhle,
Und wars kein Tagwerk im Joch der Pflicht:
Auch auf den Bergen hält mein Heiland Schule;
-- Es reut mich nicht.

Mich reut kein Scherflein, das am Weg der Arme,
Im Bett ein Kranker – ungeprüft – empfing,
Dass durch ein Antlitz, trüb und bleich von Harme,
Wie Sonnenblick ein flüchtig Lächeln ging,
Und warf ich manchmal auch mein Brot ins Wasser,
Gott selbst im Himmel füttert manchen Wicht;
Mich macht ein Schelm noch nicht zum Menschenhasser;
-- Es reut mich nicht.

Mich reut die Träne nicht, die mir entflossen
Bei fremdem Schmerze wie bei eignem Weh,
Wo Andre männlicher ihr Herz verschlossen
Und kühler standen auf des Glaubens Höh;
Und ists noch menschlich, dass der Menschheit Jammer
Mein Aug mir feuchtet und mein Herze bricht:
Auch Jesus weint‘ an einer Grabeskammer;
-- Es reut mich nicht.

Dass ich den Herrn verkannt auf tausend Pfaden,
Wo liebend mir sein Geist entgegenkam,
Dass ich vergrub so manches Pfund der Gnaden,
Das, Freunde, reuete mich und ist mein Gram,
Doch, dass ich auch als Christ ein Mensch geblieben,
Und keck, was menschlich, fasste ins Gesicht,
Ein Mensch im Dulden, Glauben, Hoffen, Lieben,
-- Es reut mich nicht.
   
Karl Gerok, aus "Palmblätter" (1860)

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