"Unter den Wissenschaftlern dieses Jahrhunderts gibt es eine ausgesprochene Tendenz, die gesamte Erkenntnis der natürlichen Welt für sich in Anspruch zu nehmen. 'Die Summe all dessen, was man weiss, hebt die grenzenlose Fähigkeit des menschlichen Geistes hervor und beweist, dass jedes natürliche Phänomen erfassbar ist', erklärte ein russischer Wissenschaftler 1958. Auch wir Christen wollen vollständige Erkenntnis des Seins - im tiefsten und weitesten Sinne - erlangen. Die materielle Welt aber umfasst noch nicht die Fülle des Seins. Ohne die Bedeutung der experimentellen Wissenschaft, die im Kampf um die Existenz sicher ihre lebenswichtige Notwendigkeit hat, schmälern zu wollen, ist es uns dennoch unmöglich, ihre Begrenztheit zu übersehen. Ich hörte einst die folgende Geschichte eines Astronomieprofessors, der in einem Planetarium voller Enthusiasmus über die Spiralnebel und ähnlich Erstaunliches sprach.
Als er einen schlichten Priester bemerkte, der unter der Gruppe der Studenten sass, fragte er ihn:
'Was sagen eure Schriften über den Weltraum und seine Myriaden von Sternen?'
Statt einer direkten Antwort darauf stellte der Priester seinerseits eine Frage.
'Sagen Sie, Herr Professor', meinte er, 'glauben Sie, dass die Wissenschaft noch mächtigere Teleskope erfinden wird, um noch tiefer in das Firmament hineinsehen zu können?'
'Natürlich ist eine Weiterentwicklung möglich, und die Wissenschaft wird immer die Apparate verbessern, um den äusseren Raum zu erforschen', antwortete der Astronom.
'Es besteht folglich die Hoffnung, dass Sie eines Tages Teleskope haben werden, die alles zeigen können, was es im Universum gibt, bis ins letzte Detail?'
'Das ist unmöglich - der Kosmos ist unendlich', erwiderte der Wissenschaftler.
'Also sind der Wissenschaft Grenzen gesetzt?'
'Ja, in diesem Sinne ist es so.'
'Nun, Herr Professor', sagte der Priester, 'da, wo die Wissenschaft aufhört, fängt unsere an, und davon berichten unsere Schriften.'"
Aus Sein Leben ist mein (1977; dt. 2004) von Archimandrit Sofronij.
* * *
"Was wir wissenschaftlichen Fortschritt nennen, ist nichts anderes als die Ausweitung der Fachwissenschaften, die sich mehr und mehr spalten, um uns weniger und weniger aufzuklären. Das Bedenkliche aber besteht darin, dass uns solch eine Methode zum ernsten Bedürfnis geworden ist, dass wir diesen analytischen Weg für 'natürlich' halten. Wir sagen Forschung und meinen Eingriff in die Natur.
Was immer das sein mag und wie vorteilhaft für die Eliten die moderne Wissenschaft auch ist: Ein Wissen, das man zerstückeln kann, dessen Fortgang immer weitere Zerstückelung erzwingt, sobald man einmal damit angefangen hat, ist nicht Weisheit. Wir finden mehr und mehr Teilgebiete, Entdeckungen, interessante und anziehende Ergebnisse. Doch am Ende können wir die Dinge nicht mehr zusammenbringen - wie das Kind, das sein Spielzeug zerlegt hat. Wir können nicht mehr spielen, weil wir so besetzt sind von der Analyse der verschiedenen Teile, in die wir die Wirklichkeit zerlegt haben.
Die ganzheitliche Haltung ist verlorengegangen, weil der Mensch auf Vernunft reduziert ist, die Vernunft auf Verstand und dieser auf die Fähigkeit zur Klassifizierung und das Vermögen, Gesetze über das Verhalten von Dingen zu formulieren. Diese Art des Wissens hat durchaus ihren Platz im Leben und ist sogar nützlich. Das Problem ist nicht das Wissen selbst, sondern unser Bedürfnis, in diese analytische Richtung zu gehen, und dass wir dabei die Ganzheit vergessen. Wir nennen es die Vergessenheit des Selbst, des atman, des Ganzen, dessen Zentrum durch uns hindurchgeht.
Die Einfalt der Weisheit bedeutet nicht künstliche Vereinfachung (Simplifizierung) des Lebens, sondern die Entdeckung, dass ich die ganze Realität berühre, mich ihr annähern, sie erkennen kann, wenn ich nur mich selbst nicht vergesse, mich nicht ausschalte; wenn ich die Wirklichkeit nicht verobjektiviere und mich dadurch zum abgetrennten Subjekt mache. Diese ganzheitliche Erfahrung ereignet sich dort, wo Theorie und Praxis zusammenkommen, wo mein Bedürfnis nach Erkennen sich nicht von meinem Dasein verselbstständigt: dort, wo sich mein Herz rein bewahrt. Viele Traditionen sagen, dass die Erkenntnis, das Wissen um das Gute und Böse, die Ursünde der Menschheit ist (vgl. Genesis 2,17). Sünde bedeutet hier Abkehr und Absonderung von der Zusammengehörigkeit alles Seienden.
Das zeigt uns, dass die Weisheit als ganzheitliche Grundhaltung von der Transparenz unseres Selbst abhängt, von der Echtheit unseres Lebens. Weisheit ist persönliche Harmonie mit der Realität, Einklang mit dem Sein, Tao, Himmel, Gott, Nichts ... "
Aus Der Weisheit eine Wohnung bereiten (2018) von Raimon Panikkar