"Wenn wir lernen, uns an der Gegenwart Gottes zu erfreuen und auf sie zu vertrauen, wird auf ganz natürliche Weise aus dieser Gegenwart Gebet. Wenn die Kirche den Menschen nicht mehr beibringt, wie man betet, könnte man fast sagen, sie habe ihre Existenzberechtigung verspielt.
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Das Gebet gibt uns ein Gefühl von Überfluss und Verbundenheit.
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Nächst dem Gebet muss die Kirche die Menschen lehren, was ich als den 'Tränenmodus' bezeichne. Weinen ist etwas anderes als auf sich selbst einzuschlagen. Weinen ist eine sanftere Freisetzung von Wasser, das uns wäscht, tauft und erneuert. Weinen führt dazu, dass wir unsere Mittäterschaft anerkennen. Weinen ist das Gegenteil von Anklagen und das Gegenteil von Verleugnen. Es führt zu tiefer Heilung, wenn es vom heiligen Geist eingegeben ist. Die Heiligen sprechen oft übers Weinen - weit häufiger, als ich erwartet hatte, als ich begann, die Texte der Mystiker zu lesen. Sie sprechen oft von der 'Gabe der Tränen'. Sie weinten ständig! Andauernd! Vor allem die Väter und Mütter des Ostens und die, die weniger kopfzentriert waren. Franz von Assisi hat viel geweint. Klara ebenso. Sie haben manchmal einfach nur zusammengesessen und geweint. Ephrem der Syrer sagt, die Freiheit zu weinen sei ein klares Zeichen dafür, dass man wirklich Gott erfahren hat.
Lied:
BRUEDER FRANZISKUS
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Wo der Tränenmodus verloren ist, muss sich all unsere Trauer anscheinend in Wut und Anklagen verwandeln. Wenn das Trauern, das Jesus selig preist (Mt 5,4), verloren geht, begeben wir uns stattdessen in den Modus des Festlegens, der Schuldzuweisungen und der Kontrolle."
Aus Richard Rohr:
Die Texte der von Richard Rohr erwähnten Väter und Mütter des Ostens finden sich vereint in der fünfbändigen "Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit"; 'durch sie', so im Untertitel 'wird mittels der sittlichen Philosophie in praktischem Tugendleben und in Beschauung der Geist gereinigt, erleuchtet und vollendet'.
Ein kleines Schatzkistchen zum Einstieg ins Thema des kontemplativen Gebets ist die "Kleine Philokalie - Betrachtungen der Mönchsväter über das Herzensgebet".
Aus der grossen Philokalie habe ich mir vor längerer Zeit 23 Aussagen zur Gabe der Tränen in acht unterschiedlichen Kontexten notiert, diese Aussagen zitiere ich hier:
TRÄNEN (aus der Philokalie)
Tränen aus Dankbarkeit
1. Wenn die Seele die Blindheit, welche ihr durch die Liebe zur Welt zuteil wird, durch die Aufmerksamkeit schwächt, dann hält sie auch ihre sehr kleinen Vergehen für überaus gross und vergiesst unter grosser Dankbarkeit unaufhörlich Tränen über Tränen.
2. Indem der Mensch Einsicht erhält aus den vielen Tränen der Einsicht und der Freude, erwägt er ausgehend von den sichtbaren Dingen die unsichtbaren und ausgehend von den vergänglichen die ewigen.
3. Freut sich der Geist aufgrund des Gedenkens Gottes, vergisst er die Bedrängnisse der Welt und wird frei von Sorgen. Und die Sorglosigkeit erfüllt ihn mit Freude, und bringt ihn dazu, Dank zu sagen. Stellt sich aber die Dankbarkeit im Verein mit Edelmut ein, wachsen die Dankbarkeit und das reine Gebet zusammen mit den Tränen der Freude.
Tränen der Sünde wegen
4. Wenn du meinst, du bedarfst bei deinem Gebet keiner Tränen um deiner Sünde willen, dann betrachte einmal, wie weit du dich von Gott entfernt hast, wo du doch verpflichtet wärest, durchweg in ihm zu sein, und du wirst manche heisse Tränen vergiessen.
5. Der Geist erhält eine Erleichterung in seinen Leidenschaften, indem er sich mit Gott hinsichtlich seiner Sünden versöhnt durch seine bitteren und zahlreichen Tränen.
Tränen als Frucht der Askese
6. Die einsame Ruhe gebiert die Askese, die Askese die Tränen; die Tränen die Furcht, die Furcht die Demut, die Demut die Voraussicht, die Voraussicht die Liebe. Die Liebe aber macht die Seele frei von Krankheit und Leidenschaft. Und dann erkennt der Mensch, dass er nicht weit von Gott entfernt ist.
7. Wenn der sich Nährende die Nahrung höher schätzt als den Genuss, dann hat sich ihm die Gnade der Tränen genähert und beginnt damit, ihn aufzufordern, auch jegliche andere Annehmlichkeit zu vergessen, da sie bereits unvergleichlich von der Annehmlichkeit der Tränen verschlungen worden ist.
8. Vor demjenigen, der sich genusssüchtig ausbreitet, ziehen sich die Tränen zurück; doch strömen sie für den hervor, der den engen Weg (Mt 7,13-14) liebgewonnen hat.
Die Gabe der Tränen
9. Bete zunächst um den Empfang der Tränengabe, um durch die Trauer die in deiner Seele bestehende Rohheit aufzuweichen und, nachdem du wider dich deine Vergehen vor dem Herrn ausgesprochen hast, seine Vergebung zu erhalten.
10. Wir werden den Geist zur Zeit der Betrachtung von jeglicher Vorstellung frei bewahren und ihm für beinahe alle seine daraus fliessenden Einsichten die Tränengabe erwirken.
11. Zuerst kommt das reinste Gebet, aus welchem eine gewisse Glut des Herzens hervorgeht. Nach ihr tritt eine seltsame heilige Wirksamkeit auf, dann göttliche Tränen des Herzens. Auf diese folgt der Friede vor mannigfachen Gedanken, aus welchem die Reinigung des Geistes hervorquillt, sowie die Beschauung der himmlischen Geheimnisse. Nach ihr stellt sich auf unaussprechliche Weise ein seltsamer Glanz ein. Aus ihm geht eine geheimnisvolle Erleuchtung des Herzens hervor und daraus wiederum die unvollendete Vollkommenheit.
12. Es ist unmöglich, die Quelle der Tränen auf andere Weise zu öffnen als durch tiefste demütige Gesinnung.
13. Erwägt die Seele die Schönheit der Güter, welche für die Heiligen bereit liegen, wird sie von der Begierde danach entflammt und lässt sogleich aufgrund der Wirksamkeit des Heiligen Geistes das Nass der Tränen fliessen. Das Kosten dieser Tränen ist so angenehm, dass jemand, der daran Anteil erhielt, manchmal sogar die leibliche Nahrung vergisst.
14. Wenn dir bei einem Gedanken Zerknirschung, Trauer und Tränen zuteilwerden, verharre bei ihm, bis letztere allein vorübergehen. Wurdest du aber noch nicht der Gabe der Tränen gewürdigt, mühe dich und bete mit demütigem Sinn, damit du sie erwirbst. Durch sie nämlich werden wir von den Leidenschaften und Befleckungen gereinigt und erhalten andererseits Anteil an den guten und heilsamen Dingen, wie Johannes Klimakos sagt: "Wie das Feuer einen Rohrstab vernichtet, so die reine Träne jeden sichtbaren und gedachten Schmutz." Und ein anderer Vater: "Wer sich Laster entledigen will, entledigt sie durch Weinen. Und wer Tugend erwerben will, erwirbt sie durch Weinen."
Schmerzlose Tränen
15. Eine ist die himmlische Freude, und eine andere jene, die zur Vollkommenheit führt. Erstere nämlich ist nicht frei von Vorstellung, letztere jedoch besitzt als ihre Kraft die Demut. Zwischen ihnen stehen die gottliebende Traurigkeit und die schmerzlosen Tränen. In der Fülle der Weisheit liegt ja ohne Zweifel eine Fülle von Erkenntnis; und wer Erkenntnis vermehrt, vermehrt den Schmerz.
Tränen und Gebet
16. Erhebe dich nicht, wenn du bei deinem Gebet Tränen vergisst. Denn Christus hat deine Augen berührt, und du hast geistigerweise das Augenlicht erhalten.
17. Wende die Tränen an zur Erfüllung jeder Bitte. Gar sehr nämlich freut sich der Herr, wenn du unter Tränen betest.
18. Befindet sich die Seele in der Blüte ihrer natürlichen Früchte, verrichtet sie auch den Psalmengesang mit lauter Stimme und will lieber mit der Stimme beten. Steht sie aber unter dem Einfluss des Heiligen Geistes, psalliert und betet sie in jeglicher Ruhe und Wonne im Herzen allein. Jenem Zustand folgt eine sichtbare Freude, doch diesem folgen geistige Tränen und danach eine gewisse Wonne, welche die Stille liebt. Da nämlich das Gedächtnis durch den massvollen Gebrauch der Stimme glühend bleibt, lässt es das Herz gewissermassen tränenbenetzte und sanfte Einsichten hervorbringen. Darum kann man wirklich sehen, wie der Samen des Gebetes unter Tränen in die Erde des Herzens aus Hoffnung auf die Freude der Ernte eingesät wird. Doch wenn wir von tiefer Niedergeschlagenheit bedrückt werden, sollen wir den Psalmengesang mit etwas lauterer Stimme verrichten. Wir lassen dann in der Freude der Hoffnung die Klänge der Seele erschallen, bis jene schwere Wolke von den Winden der Melodie aufgelöst wird.
19. Auch beim rechten Verhalten sind die Fehltritte überaus mannigfaltig, auch wenn man sorgfältig achtgibt, da einen die Sinneswahrnehmung ständig unbemerkt hintergeht. Darum wurde ein Heilmittel ersonnen: das Gebet der Tränen. Das Gebet schliesst nämlich die Dankbarkeit für die gewährten Wohltaten ein sowie die Bitte um Vergebung unserer Vergehen und um stärkende Kraft für die Zukunft. Denn ohne die göttliche Einwirkung wird die Seele wohl nichts vollbringen. Dazu kommt noch die Vereinigung mit dem Ersehnten, sein Genuss und die ganzheitliche Neigung der Willenskraft auf dieses hin - besteht doch der wichtigste Teil des rechten Verhaltens darin, den Willen dazu zu bringen, dies zu wollen, wie es nur irgend möglich ist. Die Tränen hingegen besitzen vielfache Kraft. Sie besänftigen ja den Herrn für unsere Vergehen, reinigen die Flecken, welche uns von der Sinnenlust her anhaften, und beflügeln das Streben für den höheren Bereich. So verhält es sich damit.
20. Wenn die Worte des Gebetes nicht in das Innere der Seele eindringen, wird den Tränen wohl auch nicht gestattet werden, die Wangen des Antlitzes zu umspülen.
21. Wenn die Seele beginnt, aufgrund der beim Gebet erfahrenen Freude ganz von Tränen erfüllt zu werden, dann ruft auch sie freimütig wie eine Braut ihrem Bräutigam zu: "Es steige mein Geliebter in seinen Garten hinab und esse den erarbeiteten Trost meiner Tränen gleichsam wie von den Fruchtbäumen."
Tränen und Heiliger Geist
22. Überall ist der Heilige Geist ganz und giesst sich in jeden Gläubigen ganz ein. Er teilt sich auf, ohne etwas zu erleiden, und man nimmt an ihm teil, ohne ihn zu besitzen. Das Zeichen der Teilnahme an ihm oder seiner Eingiessung ist uns jedoch das demütige Streben nach Armut, die ständig ohne Anstrengung strömenden Tränen, die volle und unverfälschte Liebe zu Gott und dem Nächsten, die Freude des Herzens und der Gott dargebrachte Jubel, die Langmut angesichts der Umstände, die Milde gegenüber allen und - kurz gesagt - Güte, Einigung des Geistes, Beschauung, Licht, glühende und stets bewegliche Kraft des Gebetes und überhaupt Sorglosigkeit gegenüber den zeitlichen Dingen im Gedenken der ewigen.
Tränen der Vergebung
23. Man soll auch bezüglich der unabsichtlichen Fehltritte dem Herrn ein eifriges Geständnis darbringen, unmöglich nämlich ist es, dass sich der Mensch nicht in menschlichen Dingen vergeht, bis unser Gewissen unter Tränen der Liebe volle Gewissheit erlangt über ihre Vergebung.
Siehe auch: Lob der Tränen