Ein wichtiger Aspekt der Achtsamkeit besteht in der Achtsamkeit auf unsere spirituellen Konzepte mithilfe derer wir unser Wirken und Erleben erfassen und begreifen. Das absolut zentralste Konzept besteht hierbei im Konzept des Selbst. Was verstehen wir unter dem "Selbst"?
Ganz grundsätzlich und allgemein verstehen wir unter dem Selbst unsere eigene Person. Als unser Selbst bezeichnen wir den Menschen, der wir sind. Von dem Menschen, der ich bin, sage ich: "Das bin ich selbst". Um ein wenig Licht in diese Thematik zu bringen untersuche ich nun: Was versteht die Bibel unter dem Selbst?
Ich skizziere kurz das biblische Menschenbild, wie ich es in der Schule für Christliche Sozialtherapie SCS am Institut für Christliche Psychologie, Therapie und Pädagogik ICP vermittelt bekommen habe (Referent: Werner May von IGNIS Deutschland).
Die Bibel spricht im Alten Testament vom Menschen hebräisch als Basar, Nephesch, Ruach und Leb (im Neuen Testament ist griechisch von Sarx resp. Soma, Psyche, Pneuma und Kardia die Rede, welche Begriffe aber, wie May betont, bereits nicht mehr imstande sind die ganzheitliche hebräische Sichtweise auszudrücken).
May sagt, der hebräischen Sprache gehe es nicht um Innenmodelle des Menschen, sondern sie drücke ganzheitliche Erlebnisformen aus. Die vier erwähnten Begriffe können unmöglich eins zu eins ins Deutsche übersetzt werden, sie beinhalten vielmehr mehrere Bedeutungen und Bedeutungsebenen, diese sind im folgenden kurz umrissen:
Basar:
- Fleisch, Körper, Verwandtschaft, Schwäche
Nephesch:
- Kehle, Hals, Begehren, Seele, Leben, Person, und als Personalpronomen
Ruach:
- Wind, Atem, Lebenskraft, Geist(er), Gemüt, Willenskraft
Leb:
- Herz, Gefühl, Wunsch, Vernunft, Willensentschluss, Gottes Herz
May betont, dass der Hebräer niemals Vorstellungen von getrennt existierenden Einzelbereichen des Menschen gehabt habe. So ist beispielsweise auch die Vorstellung einer "ewigen Seele", die unabhängig vom übrigen Menschen existiert, unbiblisch. May stellt fest:
"Immer ist es der ganze Mensch unter verschiedenen Erlebnis- und Beziehungsaspekten. Diese einzelnen Sichtweisen können nicht als getrennte Bereiche (im topologischen Sinne) zueinander in Beziehung gesetzt werden, ausser dass sie immer das gleiche 'menschliche Gebilde' meinen."
Demzufolge sind die folgenden Bedeutungsinhalte für die genannten vier Begriffe anzunehmen:
Basar (gr. "Sarx" od. "Soma"; trad. "Fleisch"):
- Der hinfällige (vergängliche) Mensch
Nephesch (gr. "Psyche"; trad. "Seele"):
- Der bedürftige (Mangel erlebende) Mensch
Ruach (gr. "Peuma"; trad. "Geist"):
- Der ermächtigte (verantwortliche) Mensch
Leb (gr. "Kardia"; trad. "Herz"):
- Der vernünftige (liebende) Mensch
May weiter: "Es gibt nichts, das der Mensch nicht als ganzes Wesen tut! Er denkt oder fühlt mit seinem Körper, mit seiner Seele, mit seinem Geist und mit seinem Herzen."
Die Bibel bezeichnet also den ganzen Menschen als hinfällig, bedürftig, ermächtigt und vernünftig. Der Mensch lebt als ganzer, ganzheitlicher Mensch und er stirbt als ganzer, ganzheitlicher Mensch. Die nun ev. anstehende Frage nach der Auferstehung lassen wir hier beiseite. Wesentlich ist für den Moment die ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen, sowie die Akzeptanz seiner durchgängigen Hinfälligkeit und Bedürftigkeit und seiner gleichzeitigen Ermächtigung und Vernunft.
Ruach ist also der ermächtigte Mensch, bezeichnet jedoch ebenfalls die, den Menschen ermächtigende, göttliche Geisteskraft, den "Heiligen Geist", "Geist Gottes", "Geist der Wahrheit". Dazu ein Text von mir aus dem Jahr 2004:
Carlos Castaneda beschreibt im Buch "Die Kraft der Stille" die Ermächtigung des Menschen in seiner Tradition. Sein schamanischer Lehrer Don Juan Matus sagt:
"Bis zu dem Augenblick, da der Geist herabsteigt, so glauben die Schamanen, können wir vor dem Geist weglaufen. Danach nicht mehr...
Der Geist offenbart sich uns. Die Schamanen sagen, der Geist liegt in einem Hinterhalt und stösst herab auf seine Beute. Das Herabstossen des Geistes, so sagen die Schamanen, geschieht immer in verhüllter Form. Es geschieht, und doch scheint überhaupt nichts zu geschehen...
Es gibt eine Schwelle, die, wenn sie einmal überschritten ist, keine Rückkehr erlaubt. Von dem Augenblick, da der Geist anklopft, dauert es normalerweise Jahre, bis ein Lehrling diese Schwelle erreicht. Doch manchmal erreicht man diese Schwelle beinahe sofort."
Weiter erklärt Don Juan seinem Schüler, dass das Überschreiten der Schwelle sich in dem Augenblick ereigne, in dem der Geist die Ketten der Selbstbetrachtung zerbreche.
Das deckt sich mit der Aussage des Buddha, dass der überweltliche Pfad, ich nenne ihn den "Weg des wahren Lebens", betreten werde durch eine tiefe wesenhafte Einsicht in die ichlose, selbstlose Natur der Wirklichkeit.
So ist die geistige Neugeburt, wie sie Jesus Christus lehrt, ebenso unumkehrbar. Und auch hier ist die erste Forderung das Aufgeben der Selbstbetrachtung, die Selbstverleugnung in den Worten Jesu: "Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach." (Lk 9.23)
Don Juan fährt fort: "Das Brechen der Ketten ist herrlich, aber oft sehr unerwünscht, denn niemand will frei sein... Sobald unsere Ketten zerrissen sind, sind wir nicht mehr an die Sorgen der Alltagswelt gefesselt. Wir sind noch immer in der Alltagswelt, aber wir gehören nicht mehr dazu."
"In der Welt, doch nicht von der Welt", mit diesen Worten beschreibt der Christus diesen Sachverhalt. Carlos Castaneda schreibt dann noch: "Jeder Schamane, sagte Don Juan, müsse eine klare Erinnerung an das Überschreiten der Schwelle haben, um sich stets seine neuen Möglichkeiten der Wahrnehmung zu vergegenwärtigen."
Vielleicht vermögen die folgenden drei Lieder zum Thema "Das ermächtigte Selbst" dir eine Hilfe sein bei der Vergegenwärtigung neuer Möglichkeiten der Wahrnehmung, und solltest du gerne gleich mitsingen oder dein Instrument dazu erklingen lassen wollen, dann findest du unter dem jeweiligen Audio auch gleich den Text inkl. die Akkorde:
Audio:
Holy Spirit is a fire - let it burn!
La dis Füür la brönne - läb nid vergäbe!
Heilig Geischt
Wie oben bereits erwähnt hat das hebräische Wort Ruach mehrere Bedeutungsaspekte, darunter auch "Lebenskraft". Wir können und dürfen den "Heiligen Geist", den "Geist Gottes", den "Geist der Wahrheit" durchaus auch säkular, das heisst frei von biblischen Inhalten, verstehen. In diesem Sinne habe ich aus den drei obigen Liedern ein Medley gemacht mit dem Titel "Läbes-Chraft":
Audio:
Läbes-Chraft
Läbes-Chraft




