Einen Monat vor meinem schweren Herzinfarkt
schrieb ich den folgenden Essay:
Epilog als Lied:
Ich bin?!
Ich bin?!
Tagebuch 2023
Dienstag 16. Mai
- HERZINFARKT -
Montag 22. Mai
- 16.30 -
Erstmals - schwach, aber in meinen Kleidern - wieder auf den Beinen.
UODAL: - 1. Das Kind - 2. Der Krieger - 3. Der Wissende -
1. Das KInd und der Weg mit Herz - (ohne Anfang) bis 1981
2. Der Krieger und die Kraft der Stille - 1981 bis 2023
3. Der Wissende und das Wirken der Präsenz - 2023 bis (ohne Ende)
- 20.00 -
Geschichten erfinden. Poesie. Philosophie. Sonnenuntergang neben Hochkaminen. Stimmen von draussen. Vogelflug und Vogelstimmen. Blumige Dächer. Schritte im Gang. Wolkenblauer Himmel. Des Knaben Naturbeschreibungen. Fürsorglichkeit. Ein Gesicht im Fensterglas gespiegelt, nicht mehr jung: alt? Kalte Betonwände. Treppengeländer aus Stahl. Ein kahles, graues Zimmer ohne jegliche Zierart an den Wänden. Ein Pflegebett. Ein Blutdruck-Mess-Roboter in einer Ecke des Raumes. Ein Tischchen mit zwei Stühlen. Ein Tagebuchschreiber sitzend am Tisch und sich beobachtend im Fensterglas. Objekte. Phänomene. Dhammas. Die Leerheit all dieser dhammas, vielleicht. Kein Laptop: ein Buch. Kein Internet: ein Bewusstsein. Körperliches - Geistesfaktoren - Bewusstsein - Nibbana (Freiheit). Direkt vor der untergehenden Sonne: ein grosser, breiter Baum (wie im Park in Kandy). Der Denker denkt den Denker.
- 20.33 -
Das Wirken der Präsenz in der Kraft der Stille auf dem Weg mit Herz: Wissendes Krieger-Kind. Kurzfristig aufgehaltener unaufhaltbarer Zerfall. Körper ist. Geist ist. Bewusstsein ist. Freiheit ist. Es ist. Ich bin.
Dienstag 23. Mai
- 06.15 -
Uodal hat geduscht, das erste Mal seit einer Woche, seit dem Betreten des letzten Pfades. Es war nicht mehr schwer, diesen anzunehmen: Er hat sich geöffnet, selbsttätig. Intensiv. Der Wissende lässt sich die Dreiheit Körper-Geist-Bewusstsein nicht vom Tod (dem Adler bei Carlos Castaneda) verschlingen: Er lotst sie am Adler vorbei in die Freiheit. Dazu muss er schnell sein: Schneller als der Tod. Ist er's nicht, gibt's Geburt - in der Todeswelt, hier oder anderswo, und der Tod hat - wieder einmal - gewonnen. Jede Geburt ist ein Sieg des Todes über die Freiheit. Jedes "Ins-Dasein-Treten" ein Zeugnis der Vergänglichkeit. Aber ebenso: Jede Gestaltung nicht nur Todesbote, sondern ebenso stiller Hinweis auf die wirkliche Freiheit. Pfad und Nichtpfad werden offenbar. Der Adler verrät sich. Das Kind und der Krieger haben ihre je eigene Arbeit getan: Der Wissende vollendet. Er wird am Adler vorbeifliegen in die Freiheit. Die Gestaltungen erlöschen, Kein Neuerstehen. Rückstandslose Befreiung. Hier: Dünkel lösen sich auf, verwehen. Aufregungen verklingen im Raum - in der Kraft - der Stille. Das Wirken der Präsenz. Freiheit. Freiheit, die immer da war: die vierte Wirklichkeit neben der Trinität Körper-Geist-Bewusstsein. Das Ungestaltete und darum Ungestaltbare. Das Leidlose und darum nicht zu erleidende - heisst: nicht zu erlebende. Nichtsdestotrotz: das zu Realisierende, zu Verwirklichende. Nibbana: Begriff - Bedeutung - Realisation. Der Begriff überwindet das Unbegreifliche. Die Bedeutung überwindet den Begriff. Die Realisation überwindet die Bedeutung. Vier im höchsten Sinne wirkliche Dinge (dhammas): Körperliches - Geistige Faktoren - Bewusstsein - Freiheit (nibbana). Ich habe das LETZTE LEBEN geschenkt erhalten! Welche Wohltat! Welche Befreiung!
- 20.45 -
Greise. Mein Zimmerkollege. Meine Mutter. Ich: ein Jungspund von 65 Jährchen. Abend. Einnachten mit untergegangener Sonne. Wolken. Rosa. Greis auf dem Klo, schwer atmend: ein Notfall. Dukkha. Schmerzliche Götterboten. Vögel kreisen hoch am Himmel. Leben in der Todeswelt. Sterben in der Lebenswelt. Samsara. Der letzte Aufenthalt: Nichts weiteres nach diesem hier. Dünkel und Aufgeregtheit umarmend auflösen. Eine weitere Nacht im Spitalzimmer, mit Zimmergenosse. Gleichmut. Freiheit: das Objekt der Gleichmutserkenntnis. Das wissende Krieger-Kind erlebt auf dem Weg mit Herz in der Kraft der Stille das Wirken der Präsenz: funktionales Wirken, neutral, ohne Folgen. "Jenseits von Gut und Böse". Befreiend. Poesie? Philosophie?
Mittwoch 24. Mai
- 06.40 -
Frisch geduscht, zum zweiten Mal. Das Leben der Menschen: Eine Suche, eine unstillbare Jagd nach... was? Glück? Nach Frieden? Freiheit? Freundschaft? Dieser immense Aufwand, diese Arbeit, und wozu? Um alles in der Welt: Wozu? Eine sinn- und zwecklose Getriebenheit ohnegleichen. Eine kleine Freude hier, eine grosse Freude da, eine kurzfristige Lust hier, ein langer, chronischer Schmerz da. Gewinn - Verlust. Lob - Tadel, usw. "Nichts lässt sich halten, nichts das bleibt, am selben Ort, in Ewigkeit". Ist alles vorläufig, alles unzulänglich, alles hinfällig, bedürftig. Wo ist die Vernunft? Auf dem Weg mit Herz, in der Kraft der Stille. Wo ist die Vollmacht? Im Wirken der Präsenz. Doch immer noch: Wozu? Wohin? Es erübrigt sich, so zu fragen: Das Auge vermag sich selber nicht zu sehen. Aber es sieht. Der Mensch weiss nicht, wozu er da ist. Aber er ist. Er lebt. "Leben, lieben, leiden heisst die Losung", schrieb Fridu Saurer vor langer Zeit. Millionen, Milliarden von Menschen. Weitere Millionen, Milliarden von Tieren. Fressen und gefressen werden, leben und sterben. SAMSARA. Je mehr du kämpfst, um davon loszukommen, desto mehr verstrickst du dich darein - wie die Fliege im Netz der Spinne. Umarme den Samsara. Begegne ihm auf dem Weg mit Herz, das ist die einzig vernünftige Art und Weise mit ihm umzugehen. Die Liebe. Die Kraft dazu schöpfst du aus der Stille und ihr Wirken geschieht in reiner Präsenz.
Samstag 27. Mai
- 16.50 -
Seit zwei Tagen und zwei Nächten wieder zuhause. Schwach und einfach anders. Die Unsicherheit, Zerbrechlichkeit, ja: Substanzlosigkeit (anatta), noch viel deutlicher im Vordergrund als je bisher. Komme mir vor wie ein Hologramm, das in einem Hologramm lebt, sich bewegt. Substanzlos eben, reine Form. Aber auch irgendwie nicht ganz da. Irgendwie und auf eine Weise nicht ganz wirklich. Vielleicht irgendwie schon ein wenig losgelöst von dieser Existenzebene. Mit einem Fuss hier, mit dem andern schon drüben, um mit dem nächsten Schritt das Hier zu verlassen und über das Drüben hinaus den einen Fuss bereits auf die Freiheit zu setzen. Freiheit - gibt es ein schöneres und wohlklingenderes Wort als dieses? Freiheit, Sinn und Ziel meines ganzen Lebens. Zuerst 23 Jahre lang fieberhaft überall gesucht, leider überall dort, wo sie unmöglich zu finden war. Dann hat sie sich selber offenbart und wurde zu dem, worum ich weitere 42 Jahre dachte kämpfen zu müssen. Das Kind wurde zum Krieger, und nun: der Krieger zum Wissenden - oder, genauer: zum Nichtwissenden auf dem Pfad des Wissens. Der Wissende steht und wartet am Ende des Weges als das Tor zur Freiheit, in die hinein er erlöschen wird. Ohne Tod und ohne Neuerstehen. Und ohne Leiden. Wie sieht aber die körperliche Wirklichkeit hier und jetzt aus, bei solchen Gedanken (Hypothesen, Konzepten)? Sie fühlt - den Frieden, die Freiheit, imaginativ vorwegnehmend - Vertrauen, Zuversicht in Weg und Ziel. Letzte Schmerzen und Leiden annehmend umarmen und so sie erlöschen lassen für immer. Der Pfad des Arahat. Der letzte Pfad. Und die definitive Frucht. Erlöst. Frei. Nibbana. Getan wird sein, was zu tun gewesen war. Nur ein Schritt noch, aber noch hält die Bewegung inne... ein Schritt: Nur ruhig, Ueli, lass dir Zeit - lass die Zeit - es wird von selbst geschehen, ganz natürlich, zur rechten Zeit: Kairos (nicht Chronos). So sei es.
Ein Augenblick der EwigkeitDie Zeit ist KAIROS die ihn hältDoch schon steigt CHRONOS auf im GeisteUnd was ewig schien vergreiste
Ein halbes Jahr nach dem Infarkt schrieb ich
MELANCOLIAS HEIMAT
Bild: Claudia Eggenweiler















