Lied: Tröim u Träne
Selig seid ihr, die ihr hier weinet,denn ihr werdet lachen. (Lk 6,21)
Kennst du die wunderbare Quelle,
Sie strömt nicht aus der Wolken Schoß,
Doch ist kein Tau so himmelhelle,Der je aus Lüften niederfloss;Kennst du den Brunn aus dunkeln Gründen,Die Felsenschlucht gebar ihn nicht,Doch wirst du seinen Bergquell finden,Der aus so tiefen Kammern bricht.
Seit, aus dem Paradies verstoßen,Der Mensch im Schweiß das Feld bestellt,Ist dieses Brünnlein stets geflossen,Und fließet bis ans Ziel der Welt;Wenn ringsum alle Bäche trocken,Kein Tau vom heißen Himmel tropft:Nie sah man diese Quelle stocken,Noch diesen Brunnen je verstopft.
Soll ich die edlen Wasser preisen,Die Gottes Huld der Welt verliehn,Die Bäche, so die Fluren speisen,Die Ströme dran, die Länder blühn,Die Brunnen, so die Durstgen tränken,Die Quellen, draus Gesundheit quillt:So muss ich auch des Wassers denken,Das warm des Menschen Auge füllt.
Den Quell der T r ä n e n muss ich loben,Denn wie aus dunklem FelsengrundEin lichter Brunnquell springt nach obenUnd macht der Tiefe Rätsel kund:So quillt aus stiller HerzenskammerDer Born der Tränen silberklar,Und macht der Seele Freud und JammerIm Licht der Sonnen offenbar.
Und wie ein Bach mit Segen letzet,Gebirge, Flur und Wiesenland,Der Garten grünt, von ihm benetzet,Und Blumen kränzen seinen Rand:So steht, von Tränen erst begossen,Dein Herzensgarten gut in Zucht,Und wo der Zähren Tau geflossen,Reift süßer jede Geistesfrucht.
Und wie des Wassers reine SeeleIn zarten Dünsten steigt empor,Dass sie dem Himmel sich vermähleAls Ätherduft und Wolkenflor,So fassen leis‘ in goldnen SchalenDie Engel deine Tränen auf,Dass sie dir einst als Perlen strahlenIm Kranze nach vollbrachtem Lauf.
Drum lass der Tränen Lob mich singen,Obgleich die Welt es nicht versteht;Dort werden Freudengarben bringen,Die hier in Tränen ausgesät;Hat doch der beste Sohn der ErdeDie Weinenden dareinst gelobt,Und selbst in Kummer und BeschwerdeDer Tränen heil’ge Kraft erprobt.
Die Träne lob ich, die in S c h m e r z e nDes Erdenpilgers Wange nässt;Zwar fließt sie herb aus wundem Herzen,Von Leid und Kummer ausgepresst,Doch wenn im Lenz die Rebe tränet,Regt sich in ihr der edle Saft,Und wenn ein Mensch vor Jammer stöhnet,Erwacht in ihm die beste Kraft.
Die Träne lob ich, die die B u ß eIm Staub vor Gott zum Opfer bringt,Wenn sie mit Magdalenens KussDes Heilands Füße fromm umschlingt,Die gleich dem Frühlingsstrom die RindeVerjährten Trotzes milde schmelzt,Und Felsenlasten alter SündeVom neugebornen Herzen wälzt.
Die Träne lob ich, die der L i e b eVom Herzensgrund ins Auge steigt,Wenn sie mit SamaritertriebeSich zu den Weh des Bruders neigt,Die Träne, die in offne WundenWie sanfter Balsam heilend fließt,Und weils die Liebe mitempfunden,Das herbste Herzeleid versüßt.
Die Träne lob ich, die die W o n n eIm Taumel des Entzückens weint,Woraus, wie aus dem Tau der Sonne,Die Güte Gottes wiederscheint,Wenn ohne Worte, ohne TöneDer stumme Dank im Auge blinkt,Und sel’ge Tropfen alles Schöne
Aus dem verwandten Herzen zwingt.
So lasset mich die Träne loben,Dieweil wir noch im Tränental!Einst weinen wir im Himmel drobenVor Freud und Dank zum letztenmal;Dann wird sich unser Aug verklärenIm ungetrübten Freudenlicht,Und Gott wischt selber alle ZährenDen Seinigen vom Angesicht.Karl Gerok, aus "Palmblätter" (1859)
Siehe auch: Die Gabe der Tränen

